Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft: Stephan Grünewald vom Institut rheingold legt die Deutschen auf die Couch. Junge Menschen sind besonders von Unsicherheiten betroffen.
Die Krisen unserer Zeit setzen die Menschen unter enormen Stress. Viele ziehen sich vordergründig in ihr privates Schneckenhaus zurück. Doch das Erstaunliche: Während das Vertrauen in die Gesellschaft einen Tiefpunkt erreicht hat, bleiben die Menschen privat optimistisch. Denn mitten in der Krise haben die Deutschen verblüffende Strategien entwickelt, um mit den Veränderungen umzugehen und neue Zuversicht zu gewinnen. Lassen sich die persönlichen Strategien auf die Gesellschaft übertragen? Stephan Grünewalds augenöffnende wie überraschende Analyse zeigt: Die Zeitenwende macht uns zu „Krisenakrobaten“ – ein Drahtseilakt voller Risiken, aber auch mit großen Chancen für jeden Einzelnen und die Gesellschaft.
Zentrale Thesen des Buches
- Grünewald beschreibt die gegenwärtige Gesellschaft als eine, die sich in Dauerkrise befindet: Pandemie, wirtschaftliche Unsicherheit, Klimakrise, Krieg, Inflation – diese multiplen Krisenzeiten erzeugen bei vielen Menschen Stress, Verunsicherung und ein Gefühl, nie „ankommen“ zu dürfen.
- Trotz dieser Verunsicherung gibt es paradoxerweise eine private Zuversicht: Viele Menschen empfinden ihr privates Umfeld als stabil, als Ort der Kontrolle oder Rückzugsmöglichkeit. Im öffentlichen, gesellschaftlichen Blick herrscht dagegen oft Pessimismus.
- Der Autor argumentiert, dass viele Menschen Krisen durch „Krisenakrobatik“ bewältigen: Sie schaffen kleine Inseln der Stabilität, pflegen Routinen, gestalten ihr Zuhause so, dass es Sicherheit gibt, suchen nach Sinn durch Freundschaftsnetz, Rückzug, gelegentliche Selbstoptimierung. Diese Strategien sind einerseits wichtig und entlastend, bergen andererseits Risiken (z. B. Isolation, Vermeidung von Konflikten, Polarisierung).
- Grünewald warnt vor zunehmender „Wagenburgmentalität“: Menschen sortieren aus ihrem sozialen Umfeld diejenigen aus, die anders denken. Auch die demokratische Streit- und Diskussionskultur wird dadurch geschwächt. Es entsteht eine Tendenz zur Abkapselung.
- Ein weiteres Thema ist, dass es an gemeinsamen Visionen und kollektiven Projekten fehlt. Viele sind damit beschäftigt, den Status quo irgendwie zu halten, anstatt aktiv Zukunft zu gestalten.

Das Bild, das sich bezüglich Kinder und Jugendliche ergibt
Aus den Studien und Aussagen, die Grünewald und das Rheingold Institut veröffentlicht haben, lassen sich einige spezifische Befunde für junge Menschen herausarbeiten:
- Alltagsängste und Sorgen über Zukunft: Junge Menschen sind besonders stark betroffen von ökonomischen Unsicherheiten (z. B. steigenden Mieten, Inflation), Sorgen um Umwelt und Klimawandel, und dem Druck, in einer instabilen Welt ihren Platz zu finden.
- Gefühl der Machtlosigkeit: Viele Jugendliche und junge Erwachsene erleben, dass Krisen nicht nur temporär, sondern andauernd und sich oft überlagernd sind. Das erzeugt das Gefühl, dass es keine klaren Handlungsspielräume gibt – dass man mehr reagiert als agiert.
- Die Suche nach Sicherheit und Stabilität: Junge Menschen suchen Schutz in Familie, in vertrauten Freundeskreisen, in stabilen Wohnverhältnissen, kurzen Wegen. Diese Bereiche bieten Orientierung und sind wichtig, um die persönlichen Ressourcen nicht zu überfordern.
- Rückzug, Blasenbildung und soziale Isolation: Es gibt Hinweise, dass Jugendliche sich tendenziell aus Debatten zurückziehen oder sich nur noch in Milieus bewegen, in denen ähnliche Werte und Ansichten herrschen. Andersdenkende werden eher gemieden. Das reduziert ihre Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Positionen und kann die soziale Polarisierung verstärken.
- Vertrauen, Gemeinschaft und Zugehörigkeit: Ein starkes Bedürfnis von jungen Menschen ist, Teil von etwas zu sein – einer Gemeinschaft, in der man nicht ausgeschlossen wird. Gleichzeitig fühlen sie sich oft nicht ausreichend in politisches oder gesellschaftliches Geschehen eingebunden. Entscheidungen würden über ihre Köpfe hinweg getroffen.
- Verlust von Vision und Großem Ziel: Jugend hatte früher oft das Bild, Großes leisten zu können – ein starkes Bild vom eigenen Beitrag zur Gesellschaft, Veränderungen bewirken zu dürfen. Dieses Bild schwächelt, weil so viele Krisen, häufige Rückschläge und Instabilität den Eindruck verstärken, dass Zukunft unsicher ist und man sich eher klein absichern muss.
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